Dienstag, 19. Februar 2013

Krebs-Indizes


Bevölkerungsbezogene Krebsregister auf dem Prüfstand


Schlussfolgerungen aus den bisherigen kleinräumigen Analysen der Krebsregister

Nach den ersten Erfahrungen mit Standard- und kleinräumigen Spezialauswertungen der Daten von bevölkerungsbezogenen Krebsregistern lässt sich eine erste Bilanz ziehen, die sich auf das Leistungspotenzial, mögliche Weiterführungen und notwendige Verbesserungen der Datengrundlage abstellt.

Generell ist eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die Politiker und Bürger an die Register richten, und den Möglichkeiten zu konstatieren, die das gesammelte Datenmaterial überhaupt zulässt. Das zeigt sich etwa an der exemplarischen Frage veranschaulichen, die der Gesundheitsexperte der SPD, Prof. Karl Lauterbach, in der Diskussion der klinischen Krebsregister stellte: "Die Menschen wollen wissen: Wie hoch ist das Krebsrisiko in einer bestimmten Region - etwa in der Nähe einer Chemiefabrik?“.

Vor allen in zwei Bereichen besteht eine sehr deutliche Diskrepanz, die eine ständige Erläuterung bedarf:

-         Während die potenziellen Nutzer glauben, durch eine Auswertung der Inzidenz- und Mortalitätsdaten gesicherte Hinweise über aktuelle Umweltbelastungen erhalten zu können, ist das wegen der Latenzphasen von Krebserkrankungen, die fünf und mehr Jahre betragen, prinzipiell gar nicht möglich.

-         Auch werden die deutlichen Auswirkungen individueller Lebensstile, die zumindest in großstädtischen Sozialräumen unterschiedlich verteilt sind, übersehen oder zumindest unterschätzt, sodass es bei der Interpretation der Ergebnisse leicht zu Missverständnissen kommt, weil sich diese Auswirkungen nicht eindeutig quantifizieren lassen.

Bei der vorhandenen Datensituation dürften trotz dieser Einschränkungen Auswertungen möglich sein, wenn sich die Auswertung stärker an den Bedürfnissen orientiert, die generell räumliche Indikatoren in der Stadtforschung und –planung gestellt werden und weniger an statistische Tests, die sich auf alle Erkrankungen stützen sollen und sich an Auswertungen medizinsicher Experimente orientieren.

Wünschenswert sind nicht ausschließlich mehr oder weniger signifikanten Aussagen über bestehende Abweichungen von Durchschnittswerten, sondern Indikatoren, die für Kleinräume über den Grad möglicher karzinogener Umweltbelastungen informieren. Man muss daher Indizes entwickeln, die auch relativ geringe Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen erfassen können, da im Informationsalltag nicht atomare Katastrophen wie in Hiroshima, Tschernobyl oder Fukoschima bzw. Chemieunfälle wie in Seveso oder Bhopal die Regel sind, sondern Erhöhungen von vielleicht 10 oder 20 Prozent, die trotz bestehender Richtwerte für technische Großanlagen wie Kraftwerke und Mülldeponien auftreten.

Dabei kann die zunächst als problematisch erscheinende Latenzzeit sogar ein Vorteil sein, da sie aktuelle Aussagen per se verhindert, sodass man bei der Auswertung auf diesen Gesichtspunkt kaum Rücksicht nehmen muss. Es ist mit anderen Worten eine Aggregation der Daten über eine Reihe von Jahren möglich, ohne dass die Auswertung dadurch veralten. Wegen der  kaum präzisierbaren Latenzphase kann schließlich ohnehin keine eindeutig aktuelle Aussage getroffen werden.

Dank dieser größeren Fallzahl lassen sich speziellere Indizes entwickelen, die nicht nur die gesamte Krebsindenzität oder –mortalität einer Region erfassen:

-         Ein ökologischer Inzidenzindex, der nur die Lokalisationen einbezieht, die nicht zu einem sehr hohen Anteil auf den individuellen Lebensstil zurückzuführen sind, dient als generelles Maß für eine karzinogenfreie Umwelt. Operational gesehen umfasst er daher alle Lokalisationen ohne die tabakinduzierten. Um weitere nicht zufällige individuelle Effekte auszuschließen sollte zusätzlich, falls entsprechende sachliche Voraussetzungen vorliegen, eine Verzerrung durch sreeningrelevante und schiffbauassoziierte Lokalisationen zumindest geprüft werden.

-         Expositionsspefische ökologische Indizes können mithilfe der entsprechenden Lokalisationen berechnet werden. Das gilt für einen KKW-, einen Mülldeponie-, einen Pestizid- und einen Schwermetallindex.

-         Da Neuerkrankungen vor allem bei älteren Menschen auftreten, für die Krebs eine relativ häufige Krankheit und die zweithäufigste Todesursache ist, sollten nicht allein Erkrankungs- und Sterbefälle betrachtet werden. Eine besondere  Aufmerksamkeit sollte vielmehr der Frage gelten, bis zu welchem Alter man in einer Region im Durchschnitt krebsfrei leben kann. Um diese Qualität eines krebsfreien Lebens zu ermitteln, kann ein ökologischer Latenzindex berechnet werden, der die durchschnittlicher Alterabweichung bei einer Neuerkrankung von dem mittleren Erkrankungsalter der jeweiligen Lokalisation für jeden Fall in jeder Region ermittelt.

Durch den Fundus an Daten, der seit Gründung der Krebsregister gesammelt wird, lassen sich, wenn man die Aktualität weniger beachtet, die Fallzahlen für längere Zeiträume aggregieren, sodass sich die Auswertungen auch für kleinere Teilräume vornehmen lassen. Nimmt man die Bremer Werte als Beispiel, wurden bisher bei Aggregaten von drei Jahrgängen Teilregionen von ca. 30.000 Einwohnern als kleinste Einheit betrachtet. Diese Größe ließe sich entsprechend bei sechs Jahren auf 15.000 Einwohner reduzieren. Dadurch wäre es erheblich einfacher, um eine mögliche Emissionsquelle konzentrische Regionen zu bilden, sodass sich prüfen lässt, ob mit der Entfernung die Inzidenzhäufigkeit sinkt, was nach den Untersuchungen Kinderkrebsregisters ein relativ verlässlicher Indikator für relevante Emissionsquellen ist.

Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Einführung klinische Krebsregister stellt sich die Frage einer Zusammenarbeit mit den bereits bestehenden epidemologischen. Das gilt vor allem für die arbeitsintensive Erstellung eines vollständigen Datenpools, der mit den Einwohnermeldeämtern abgeklärt werden muss.

Bei dieser ohnehin allein aus Kostengründen gebotenen Abstimmung zwischen den beiden Typen von Registern wäre es zweckmäßig, auch die individuellen Daten zu erheben, die bisher die Auswertungen der bevölkerungsbezognen Daten erheblich beeinträchtigt haben.

Das gilt in erster Linie für Fragen des individuellen Gesundheitsverhalten wie des Raucherstatus und für die Dauer einer kleinräumigen Exposition, die sich durch den Wohnort und den Arbeitsplatz erfassen lässt. Hier ist die bisherige räumliche Zuordnung zu der Adresse, die zum Zeitpunkt der Erkrankung oder sogar des Todes angegeben wird, völlig unzulänglich. Diese Erfassung missachtet jegliches Wissen über Latenzzeiten und vernachlässigt völlig die Dauer einer möglichen räumlichen Exposition.

Eine Alternative wäre hier die Erfassung etwa aller Wohnorte und Arbeitsplätze, an denen sich der Kranke während der letzten 10 bis 15 Jahre längere Zeit, also beispielsweise 5 Jahre und mehr, aufgehalten haben. Dadurch wäre es prinzipiell möglich, dass ein Erkrankter in der Auswertung mehreren Kleinräumen zugeordnet wird, was jedoch den realen Expositionssituationen  entspricht.

Da diese Informationen nicht nur die Qualität der Daten der bevölkerungsbezogenen Register deutlich verbessern können, aber auch für klinische Register relevant sind, könnte eine Zusammenarbeit oder Integration der beiden Registertypen gleichzeitig zu Qualitätsverbesserungen und Kosteneinsparungen führen.

Dabei dürfte die notwendige Anonymisierung der Daten kein unüberbrückbares Hindernis sein, wenn man die bisherigen Regelungen auch künftig konsequent anwendet.



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